Einst vertrieben die Nazis die jüdische Familie Alexander aus dem "Sommerhaus am See", dann zog die DDR die Mauer mitten durch den Garten. Thomas Harding machte das Haus zu einem Ort der Versöhnung.
Fotos DTV/ Thomas Harding Sonntag, 16.10.2016 12:18 Uhr 1927 bauten Thomas Hardings Urgroßeltern ein Sommerhaus am Groß Glienicker See bei Berlin. 1936 musste die jüdische Familie vor den Nazis fliehen. Nach dem Krieg überflogen Luftbrücke-Piloten das Haus, um 1948 das von den Sowjets blockierte West-Berlin zu versorgen. Und 1961 errichtete die DDR mitten auf dem Grundstück die Berliner Mauer. Im Buch "Sommerhaus am See" erzählt Thomas Harding die Geschichte des Gebäudes - und seiner Bewohner. Ein Mikrokosmos deutscher Geschichte:Es war ein warmer Abend im August 2016 am Groß Glienicker Sommerhaus in Potsdam, wie geschaffen für ein Volleyballspiel. Eine Woche lang hatten wir Betonpfosten, Stacheldraht und eimerweise Glasscherben vom sandigen Boden entfernt. Tags darauf sollte hier ein interreligiöses Sommerfest stattfinden. Wir waren zu fünft. Meine Tochter Sam, meine Nichte Jihan und mein Neffe Amin, Uli aus Groß Glienicke und ich. Uns war bewusst, dass niemand auf diesem Boden Sport getrieben hatte, seit meine Familie 1936 vor den Nazis nach London fliehen musste. Das Sommerhaus am See hatte 1927 mein Urgroßvater Alfred Alexander gebaut, ein bekannter jüdischer Arzt, der auch Albert Einstein und Marlene Dietrich behandelte. Dies war der Ort, an dem meine Großmutter Elsie und ihre Schwester Bella Tennis spielten, während ihre Brüder Hanns und Paul im See schwammen. Die Nazis verfolgten die Alexanders als Juden; Hanns und Paul wurden von der Schule geworfen; Elsie durfte nicht länger an Journalismus-Seminaren der Universität Heidelberg teilnehmen. Nach der Flucht der Alexanders mietete der Musikverleger Will Meisel das Haus. Später erwarb er es zu einem Viertel seines Werts, als die Gestapo es beschlagnahmt hatte. Meisels Geschäftsführer Hanns Hartmann und dessen jüdische Frau versteckten sich hier während der brutalen Besetzung Groß Glienickes durch die Rote Armee im April 1945. Zurück im "Seelenort" Später zog Ella Fuhrmann, eine Bekannte Meisels, mit ihren beiden Kindern ins Haus. Eines Morgens im August 1961 weckte sie Lärm. Die Berliner Mauer wurde errichtet - mitten durch den Garten. Das Haus war nun vom Wasser abgeschnitten, es lag auf DDR-Gebiet. Schließlich wohnte dort Wolfgang Kühne, ein Straßenreiniger und gescheiterter Stasi-Spitzel. Im Wendejahr 1989 bearbeitete er die Mauer per Presslufthammer, damit sein Enkel endlich an den See konnte. Vier Jahre später, an ihrem 80. Geburtstag, nahm meine Großmutter Elsie meine Cousins und mich mit in ihre wiedervereinigte Geburtsstadt Berlin. Sie zeigte uns die Wohnung ihrer Familie auf der Bundesallee, ihre alte Schule im Grunewald, schließlich das Sommerhaus am See. Wolfgang Kühne führte uns mit Freude herum. Elsie nannte das Haus ihren "Seelenort". Sie war froh, dass es den Kühnes dort gut ging - sie habe keine Absicht, es ihnen wegzunehmen. 2013 bekam ich eine E-Mail aus Groß Glienicke. Ich recherchierte gerade für mein Buch "Hanns und Rudolf": Hanns Alexander hatte als britischer Soldat Rudolf Höß gejagt, den Kommandanten des KZ Auschwitz. Die Schreiberin ermutigte mich, das Sommerhaus zu besuchen. Eine Woche später stand ich schockiert auf dem verwilderten Grundstück: Die Holzwände waren mit Graffiti beschmiert, einen Raum hatte man als Drogenhöhle benutzt. Mir war übel. Potsdamer Beamte sagten, das Haus gehöre mittlerweile der Stadt, solle bald abgerissen werden und sei allein durch die Verleihung des Denkmalstatus zu retten. Wie könnte ich das hinbekommen? Einwohner von Groß Glienicke rieten zu einem "Aufräumtag", um den Müll vom Grundstück zu entfernen. So könne die historische Bedeutung des Hauses besser beurteilt werden. Noch wichtiger wäre aber, dass meine Familie das Projekt unterstütze. Kein "wir" und "sie" mehr Eine Woche später traf ich meine Verwandten in London und erwartete Unterstützung, bekam aber zunächst keine: "Warum willst du ein Haus in Berlin retten, wenn du doch in England lebst?" Dann hob eine Cousine die Hand - sie würde nach Berlin fliegen. Eine andere Cousine stimmte zu: Die Dorfbewohner hätten Kontakt zu uns aufgenommen, dies sei eine außergewöhnliche Gelegenheit zur Versöhnung. Im April 2014 nahmen 14 Mitglieder meiner Familie am "Aufräumtag" teil - zusammen mit 60 Einwohnern von Groß Glienicke. Am Abend kamen wir im Gemeindesaal zusammen. Der stellvertretende Ortsvorsteher ließ Audioaufnahmen aus den Dreißigerjahren laufen, darin forderte Hitler die Vernichtung der Juden. Bei unserem ganzen Projekt ging es um Wahrheit und Aussöhnung - und dies war die "Wahrheit". Ohne sie hätten weder ich noch meine Familie uns wohlgefühlt in diesem Saal. Ich erzählte die Geschichte des Hauses auf Englisch, ein Freund übersetzte. Ich zeigte auch ein Foto meiner Großmutter in ihrer Tenniskleidung: weiße Schuhe, weiße Hose, noch weißeres Hemd. "Wer ist das?", rief jemand. Mein Vater antwortete auf Deutsch: "Das ist meine Mutter Elsie." - "Sie sprechen Deutsch?" Mein Vater stand auf: "Ja, aber nicht sehr gut." Zehn Minuten lang erzählte er in perfektem Deutsch von seiner Mutter, seinen Geschwistern, ihrer Zeit im Sommerhaus. Im Raum änderte sich etwas. Es gab kein "wir" und "sie" mehr, nicht mehr die Deutschen aus dem Ort und die zurückgekehrten deutsch-jüdischen Flüchtlinge - wir waren eine Gemeinde. Freundschaft statt Hass Nach diesem "Aufräumtag" gründeten meine Familie und Einwohner Groß Glienickes den Verein "Alexander-Haus e.V.". Bald erhielt das Gebäude den Denkmalstatus. Im Juni 2016 erfuhren wir, dass die Bundesregierung 140.000 Euro für die Renovierung bereitstellen würde. Seitdem sind wir Partnerschaften mit der Uni Potsdam, der Stadt Potsdam und dem Land Brandenburg eingegangen, ebenso mit christlichen, jüdischen und muslimischen Organisationen. Wir wollen die turbulente Geschichte des Hauses nutzen, um ein Zentrum für Bildung und Aussöhnung zu schaffen. Deshalb auch der Volleyballplatz. Auf der einen Seite spielten an diesem Augustabend meine Tochter und ich, Nachfahren deutscher Juden, sowie Uli aus dem Dorf. Auf der anderen Seite mein Neffe und meine Nichte, die kurz zuvor aus Damaskus nach Berlin gekommen waren. Meine Schwester hatte vor 25 Jahren einen syrischen Kurden geheiratet. Seit ich Amin und Jihan vor zwei Jahren erstmals traf, haben sie uns bei der Restaurierung und unseren Aussöhnungsprogrammen geholfen. 1936 hatte meine Familie Deutschland als Flüchtlinge verlassen, 80 Jahre später kam ein Teil von uns aus dem vom Bürgerkrieg zerstörten Syrien als Flüchtlinge hierher. Nach einer Stunde Spielzeit schnappten wir nach Luft. Ich fragte Amin, warum er bei der Restaurierung des Sommerhauses helfe. "Weil ich Teil der Familie bin", sagte er. Und fügte hinzu: "Ich hoffe, dass es irgendwann in der Zukunft, wenn ich zurück in Damaskus bin, dort auch Leute geben wird, die mir helfen, mein Haus wieder in Ordnung zu bringen."
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